Dr. Silke Radosh-Hinder ist stellvertretende Superintendentin im Evangelischen Kirchenkreis Berlin Stadtmitte und gehört zu den Gründerinnen des Drei-Religionen-Kita-Haus-Projektes. Sie hat in ihrem Buch „Konstruierte Gleichheiten“ dargelegt, welche Rolle Freundschaften und eine gelingende Kommunikation bei interreligiösen Projekten haben kann.
Christiane Bertelsmann hat mit ihr über ihr Werk gesprochen:
Sie engagieren sich schon seit vielen Jahren für interreligiöse Themen – wie kam es dazu?
Da gab es zwei Auslöser: Zum einen die Anschläge auf das World Trade Center in New York 2001. Danach habe ich mich oft gefragt: Wie können wir deutlich machen, dass Religionen Zeichen des Friedens und nicht von Krieg und Terror sind. Was brauchen wir hierfür an religiöser Verständigung?
Der zweite Auslöser waren Überlegungen, die Jerusalemskirche genau gegenüber des damals neu eröffneten jüdischen Museums in Berlin Kreuzberg zu einem Ort zu machen, wo sich Kinder und Jugendliche mit interreligiösen Themen auseinandersetzen können. Für dieses Projekt habe ich zehn Jahre lang die theologische Leitung übernommen – und in dieser Zeit unglaublich viel über interreligiöse Verständigung gelernt.
Worum geht es in Ihrem Buch, das ja gleichzeitig Ihre Dissertation ist?
Ich habe in meiner Studie die Gespräche untersucht, die die vier Initiatorinnen für das Drei-Religionen-Kitahaus in Berlin über mehrere Jahre miteinander geführt haben, weil es wichtig ist zu verstehen, wie es den Beteiligten über diese Gespräche gelingt, ein solch ambitioniertes Vorhaben umzusetzen. Dabei wurde deutlich: Wir wissen relativ viel darüber, welche Haltungen Menschen mitbringen sollten, damit interreligiöse Gespräche und Begegnungen gelingen können: Sie sollen respektvoll sein, gut zuhören können. Was aber noch so gut wie gar nicht untersucht wurde: wie werden Gespräche in interreligiösen Aushandlungsprozessen konkret geführt? In dieser Forschungslücke ermöglicht meine Studie einen Beitrag und bietet vielleicht auch einen Anreiz dafür, weiter zu forschen.
Warum ist das interreligiöse Gespräch so wichtig, wofür brauchen wir es?
Im Weltkontext wird Religionen sehr häufig vorgeworfen, für kriegerische Auseinandersetzung mitverantwortlich zu sein. Das ist verständlich, aber auch sehr problematisch.
In einer von Pluralismus und Diversität geprägten Gesellschaft wie unserer liegt ein großes Potenzial darin, wenn sich Menschen unterschiedlicher Religionen gemeinsam für gesellschaftliche Ziele und soziale Verbesserungen einsetzen und damit neue Netzwerke schaffen. Ein friedliches und respektvolles Miteinander-Umgehen ist dabei unverzichtbar.
Sehen Sie Stellen, wo das bereits gelingt?
Ja, es gibt die großen medienwirksamen Treffen auf politischer Bühne, aber viel wichtiger sind die gelingenden Projekte auf lokaler Ebene, die international immer größere Kreise ziehen – zum Beispiel von verschiedenen Religionen gemeinsam genutzte Häuser, die eine gemeinsame Vision in die Gesellschaften tragen, sei es das genannte Kitaprojekt, das House of One oder das Haus der Religionen in Bern. Wir erleben, dass solche Entwicklungen ein großes Potenzial haben – weltweit.
Sie sind gerade dabei, mit interreligiösen Partnerinnen die Drei-Religionen-Kita in Berlin zu entwickeln. Inwiefern hat die Arbeit am Buch bei den weiteren Aushandlungsprozessen geholfen?
Die politischen Freundschaften, die durch die Kommunikationsprozesse entstanden sind, haben dazu beigetragen, Unterschiede zu überbrücken. Das war eine neue Erkenntnis, die sich in der Kommunikation sehr gut nachweisen ließ: Es ging darum, diese Freundschaft zu festigen, um dadurch massive Konflikte überbrücken zu können. Auch die die strukturellen Unterschiede, die die verschiedenen Religionsgemeinschaften auszeichnen, ließen sich nur individuell durch enge Freundschaftsbeziehungen überbrücken. Ein Beispiel aus meinem Buch: Ganz viele Alltagsgespräche handeln davon, wie die Beteiligten jeweils ihre religiösen Feste feiern, sich darauf vorbereiten, ihre religiöse Praxis leben. Es wird so gut wie gar nicht über religiöse Lehrmeinungen oder Theologie geredet, sondern ganz viel über religiöse Praxis. Dabei wird das lexikalische Wissen über die andere Religion mit eingespeist und mit der Praxis verschränkt. So entsteht eine neue, kommunikativ hergestellt interreligiöse Alltagswelt. Dies hat dazu geführt, solche Gesprächsphasen mehr zu würdigen und als wesentlich zu verstehen, die in der Forschung häufig übersehen werden, wie z. B. das gemeinsame Lachen, Schweigen oder die geteilte Alltagskommunikation. Aber natürlich gehen damit auch wieder Gefahren einher, weil so sehr auf die individuelle Verständigung der einzelnen ankommt.
Politische Freundschaft – was ist das eigentlich?
Ich beziehe mich mit diesem Begriff auf Hannah Ahrendt, die sagt: „das politische Element der Freundschaft liegt darin, dass in einem wahrhaftigen Dialog jeder der Freunde die Wahrheit begreifen kann, die in der Meinung des anderen liegt. Der Freund begreift nicht so sehr, den Anderen als Person – er erkennt, auf welche Weise die gemeinsame Welt dem Anderen erscheint, der als Person ihm selbst immer ungleich und verschieden bleibt. Diese Art von Verständnis […] ist die politische Einsicht par excellence.“ (Hannah Arendt, Sokrates, Apologie der Pluralität, 1956)
Es geht also bei der politischen Freundschaft um eine Form der Freundschaft, die sich auf die gemeinsame Welt bezieht, ein öffentliches Füreinander- und Miteinander-Einstehen beinhaltet und sich auf das Einfordern der Gleichheit bezieht. Darum auch der Titel meines Buches: Konstruierte Gleichheiten.
Wen würden Sie sich als Leser*in wünschen? Wer sollte Ihr Buch lesen?
Es ist natürlich ein wissenschaftlich geschriebenes Buch. Aber die Fragestellungen: Wie kommunizieren wir miteinander? Wie wichtig ist, es miteinander zu lachen? Welchen Stellenwert hat es? – das berührt Themen, die nicht nur in interreligiösen Fragestellungen relevant sind. Von daher glaube ich, dass viele Menschen neue Überlegungen entwickeln könnten, wenn sie kommunikative Prozesse, bei denen es um die Entwicklung von Beziehungen geht, neu bewerten können. Mir war wichtig aufzuzeigen, dass durch Kommunikation, Beziehungsgewebe entstehen können, die Menschen über sozial definierte Grenzen hinweg in einer politischen Freundschaft miteinander verbinden. Dieser Aspekt wurde bislang in Aushandlungsprozessen unterschätzt und stellt auch ein neues Paradigma für interreligiöse Beziehungen dar. „Friendship sometimes counts for more than interfaith agreement or understanding.” (Jonathan Sacks, 2017, ehem. Oberrabbiner von Großbritannien).
Die Fragen stellte Christiane Bertelsmann.